Nachdenken über das Nicht-Nachdenken-Müssen

Der Journalist und Buchautor Konrad Schuller, langjähriger Osteuropa-Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und ausgewiesener Experte für den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, war am 2. Dezember 2025 zu Gast am Herder-Gymnasium. In der 11. Herder-Expertise „Die Ukraine und wir“ folgten zahlreiche Schülerinnen und Schüler der Einladung der AG Schulpartnerschaft und des Fördervereins GFH.

Zu Beginn skizzierte Schuller die politischen und strategischen Grundlinien des Krieges: die Ziele der Ukraine – die Ausrichtung auf Europa, der schrittweise, durch Wahlen legitimierte Weg zu einem demokratischen Rechtsstaat – sowie die russischen Kriegsziele. Dazu zählen die von Wladimir Putin formulierte Vorstellung einer „dreieinigen Nation“ aus Russland, Belarus und Ukraine sowie der Anspruch auf eine russische Hegemonialsphäre in Ostmitteleuropa. Ergänzend stellte Schuller die Frage nach den Interessen Europas und nach der Rolle des wichtigsten, zugleich derzeit schwer kalkulierbaren NATO-Partners: der USA.

Die aktuelle militärische Lage ordnete er als Abnutzungskrieg ein. Seit über einem Jahr haben sich die Frontlinien kaum verschoben, während die Verluste auf beiden Seiten extrem hoch sind – genaue Zahlen bleiben unbekannt. Russland setze offenkundig darauf, länger durchhalten zu können. Vor diesem Hintergrund präzisierte Schuller, was unter Sieg zu verstehen sei: nicht die physische Vernichtung des Gegners, sondern – in Anlehnung an den Militärwissenschaftler Carl von Clausewitz – das Brechen seines politischen Willens.

Für die Ukraine bedeute ein Sieg vor allem, als lebensfähiger Staat zu überleben und stark genug zu sein, um einen erneuten Angriff Russlands abzuschrecken: durch eigene Streitkräfte und durch verlässliche Sicherheitsgarantien.

Die Moderation der Veranstaltung lenkte den Blick auf den Alltag internationaler Diplomatie. Am selben Tag war in den Nachrichten zu lesen von Gesprächen zwischen den USA und der Ukraine, von einem US-Sondergesandten auf dem Weg nach Moskau, von Selenskyjs Treffen mit Macron in Paris, von EU-Erklärungen gegen Verhandlungen über die Köpfe der Ukraine hinweg – und zugleich von neuen russischen Angriffen auf Kiew, von Toten, Verletzten und verminten, rückeroberten Gebieten. Die Gleichzeitigkeit von Verhandlung und Gewalt bildete den desillusionierenden Rahmen der Diskussion.

Auf die Frage nach einem realistischen Kriegsende entwarf Schuller drei Szenarien: einen fortgesetzten Abnutzungskrieg ohne Entscheidung, einen erzwungenen Waffenstillstand mit hohem Preis – oder einen Frieden aus relativer Stärke der Ukraine. Welche dieser Richtungen eingeschlagen werde, hänge maßgeblich vom Einfluss Europas ab, vor allem aber von dem der USA.

Im Zentrum der Herder-Expertise stand jedoch die Frage: Was hat das alles mit uns zu tun?

Schuller machte deutlich, dass ein russischer Sieg unmittelbare Folgen für die Sicherheit der EU- und NATO-Staaten hätte. Europa müsste erheblich mehr in Verteidigung investieren, um sich gegen einen gestärkten Aggressor zu schützen. Die Unterstützung der Ukraine sei daher nicht nur Ausdruck von Solidarität, sondern auch nüchternes Eigeninteresse – und ein Test dafür, ob Demokratien in der Lage sind, in Bedrohungslagen zusammenzustehen. Die jüngsten Gespräche in Berlin unterstrichen dabei die besondere Verantwortung Deutschlands.

Den Abschluss bildete eine offene Fragerunde. Auffällig war die Zurückhaltung der Schülerinnen und Schüler – keine schnellen Urteile, keine einfachen Antworten. Auch nach der Veranstaltung wurde weiter diskutiert. Einige Stimmen lauteten:

„Ich habe neue Erkenntnisse über politische Zusammenhänge und Hintergründe in Bezug auf den Krieg in der Ukraine und Russlands Politik erfahren. Mir war nicht klar, dass Politik so komplex ist.“

„Ich fand es wichtig, dass uns das Thema nahegebracht wurde. Gleichzeitig ist es frustrierend, wie wenig wir selbst bewirken können.“

„Dass es möglicherweise wieder eine Wehrpflicht geben wird, erscheint mir als widersprüchlicher Beweis dafür, dass Frieden offenbar nur militärisch gesichert werden kann.“

Diese Äußerungen verweisen auf einen Prozess politischer Reifung. Einfache Lösungen gibt es nicht. Umso deutlicher tritt der Wert politischer und historischer Bildung hervor: nicht als Meinungslenkung, sondern als Anstoß zum eigenständigen Denken dort, wo Gewissheiten fehlen.

Eine Wortmeldung stach besonders hervor, als es um die persönliche Bereitschaft zur Verteidigung ging:

„Darüber habe ich noch nicht nachgedacht …
Ich wüsste nicht, wie ich morgen entscheiden würde.“

Dieser Satz markierte die Kernaussage der Analyse aus der Perspektive der Schülerinnen und Schüler. Er machte spürbar, dass Fragen nach Krieg, Frieden, Abschreckung und Verantwortung nicht abstrakt bleiben. Sie treffen auf eine heranwachsende Generation, die bislang das Privileg hatte, darüber auch nicht nachdenken zu müssen – und nicht entscheiden zu müssen.

Der Vormittag endete mit einem Paradoxon: Wir leben in der Freiheit, nicht darüber nachdenken zu müssen, wie wir handeln würden, wenn Demokratie und Werte nicht nur mit Worten, sondern unter persönlichem Risiko verteidigt werden müssten. Genau dieses Nachdenken über das Nicht-Nachdenken-Müssen könnte man aus der 11. Herder-Expertise „Die Ukraine und wir“ mitgenommen haben.

Zweimal wurde das Gespräch bewusst von Instrumentalmusik unterbrochen – in großer Meisterschaft interpretiert von Volodymyr Boichuk, einem ukrainischen Gast. Die Bandura, ein traditionelles ukrainisches Zupfinstrument, stand als klangvolles Gegenüber zur realen, politischen Analyse. Man könnte sagen, ihre Klänge erweiterten den Hörraum – vor allem aber machten sie hörbar, dass hinter allen geopolitischen Linien Menschen stehen, die uns mit ihrer Kultur zugewandt sind: Die Ukraine und wir – Wir verstehen einander!

So verband die Herder-Expertise Analyse und Erfahrung: die nüchterne Betrachtung von Zielen, Strategien und Szenarien – und die einfache Einsicht, dass Freiheit bedeutet, heute nicht entscheiden zu müssen, wie man sich verhält, wenn es ernst wird.

Begleitend zur Veranstaltung fand am Herder-Gymnasium vom 1. bis 5. Dezember eine Solidaritätswoche für die Ukraine mit Geld- und Sachspenden statt. Die Geldspenden beliefen sich auf nahezu 2.500 Euro.

Der Förderverein beteiligte sich selbst u.a. mit einer Spende seiner bekannten Herder-T-Shirts und finanziert den bevorstehenden Transport weiterer Sachspenden für die Partnerschule in Kiew, das Lyzeum Consul.

Norbert Wartig (GFH)

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